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Geht Gastro auch anders?

Silvesterabend 2022
Küchenschluss
23:00 Uhr

Das Küchen- und Serviceteam stoßt auf das abgelaufene Jahr an.
Mit dabei die Unternehmensleitung und einige Gäste, welche besonders kulinarisch interessiert sind. Es gibt viel zu erzählen, besprechen, zu diskutieren. In erster Linie über das besondere Menü des Silvesterabends. Besonders deshalb, weil es etwas Seltenes und doch Altbekanntes war, weil es nach alnger Zeit wieder einmal Edelteile gab, weil man es wieder zu schätzen wusste.
Man unterhält sich über den sozialen Wert des Abends und über die Veränderung der Essgewohnheiten. Man erzählt von den persönlichen Entwicklungen und Erkenntnissen der letzten 18 Monate und der Transformation im heimischen Tourismus. Und man diskutiert über die neuen Denkansätze und den daraus entstandenen Strukturen in der Hotellerie und Gastronomie.

Besondere Momente schaffen

Dieser Moment ist besonders. Besonders deshalb, weil zwei Jahre zuvor um diese Uhrzeit noch jeder Koch, jeder Kellner, jeder Spüler und überhaupt alle im Hotel im Stress waren. Weil es den Gästen nicht schnell genug gehen konnte, weil es dem Küchenchef nicht gut genug sein konnte und weil das Menü trotz aller Raffinessen und dem damit verbundenen Arbeitseinsatz nur als selbstverständlich abgetan wurde.

Es erinnern sich alle an die „stressigen Zeiten“. Das musste ja so sein, das war ja immer so. „Heuen muss man, wenn die Sonne scheint“, hat man immer gesagt. Aus heutiger Sicht erscheint die Einstellung trivial, denn ob die Sonne scheint oder nicht, spielt keine Rolle. Das schöne Wetter kann man sich selbst machen. Gäste begeistern kennt keine Jahreszeit.

Es ist ruhig geworden in der Weihnachtszeit. Nicht deshalb, weil die Buchungen zurückgegangen sind, sondern weil die Gäste zufriedener wurden. Höher, schneller, weiter; interessiert nicht mehr. Das gilt auch für die Kulinarik. Das heutige Menü war die Ausnahme. Es gab nach langem wieder einmal Rinderfilet. Sauteuer, weil selten – doch einem Abend wie diesem würdig.

Die Küche hat sich verändert, jedoch zum Besseren. Das Verständnis für eine gute Küche hat sich weiterentwickelt. Das „große Fressen“ von Edelteilen im einzelnen und Tieren im Allgemeinen hat sich auf ein gesundes Maß verringert. Gesund für die Menschen, gesund für die Tiere, gesund für unseren Lebensraum.

„Doch, doch“, erzählt der Küchenchef, „wir kochen immer noch mit tierischen Produkten. Aber nicht mehr so viel wie vorher. Und wir verwerten wieder alles was uns möglich ist. Und da ein Rind nur zwei Filets hat und diese im Vergleich zum ganzen Tier sehr klein sind, heben wir die Filets für besondere Anlässe auf. Daher gibt es wieder vermehrt klassische Rezepturen, modern abgestimmt natürlich“, wie der Küchenchef betont.

Der Wandel der Kulinarik

Die Kulinarik hat einen Wandel erlebt, es wird mehr pflanzliches gekocht. Fleisch ist zur Beilage geworden – wenn überhaupt. Auch die Exoten wurden weniger, man besinnt sich wieder Produkten aus der näheren Umgebung und die Vorratshaltung hat einen neuen Stellenwert bekommen. „Unser regionales Sommergemüse wird zu einem großen Teil von uns selbst veredelt und konserviert“ sagt der Küchenchef, „ihr solltet mal in unseren Keller schauen – Eimachgläser soweit das Auge reicht. Getrocknete Tomaten, fermentierte Salzgurken, vergorener Chinakohl, das eigen Sauerkraut, eingelegte Pilze, und, und, und.
Wir sind natürlich nicht katholischer als der Papst, wir brauchen auch im Winter Gurken, Paprika, frischen Salat, so wie früher. Was wir jedoch kultiviert haben, ist, den eigenen Produkten durch die Veredelung einen höheren Stellenwert zu geben. Das Tüpfelchen auf dem i, sozusagen.“
„Biotonnen brauchen wir auch nicht mehr soviel wie früher“, wirft der Hausmeister ein. „Stimmt“, sagt der Souschef, „unser Biomüll ist enorm zurückgegangen, weil wir wieder einen intensiveren Bezug zu unseren Lebensmitteln haben und definitiv nicht mehr so viel wegwerfen wie früher. Auch unsere gesamte Küchenplanung hat sich gewandelt. Erst wird geplant, dann besprochen und dann erst gekocht“.

Die Rückkehr der Einheimischen

„Aber ist das nicht richtig viel Arbeit?“, fragt ein Gast. „Natürlich“, erwidert die Hotelchefin, „doch das ist kein Problem mehr. Die Entwicklung der letzten eineinhalb Jahre hat uns unseren einheimischen Mitarbeitern wieder nähergebracht. Wir haben uns viel mit unserer Unternehmenskultur beschäftigt. Das hat uns die Augen für eine neue Mitarbeiterphilosophie geöffnet. Wir sind weg von den hierarchischen Abläufen, hin zu einer Mitarbeiterkultur der Partizipation. Wir suchen und uns finden unsere Mitarbeiter auf dem Weg der intrinsischen Motivation.
Wir schauen zuallererst ob wir mit dem Mitarbeiter, der Mitarbeiterin zusammenpassen. Ob unsere Bedürfnisse und Ziele passen. Ob wir gemeinsam – das Unternehmen und der Mitarbeiter – ein Stück des Weges auf ein persönliches Ziel zugehen können. Damit muss ich niemanden mehr motivieren, denn die Motivation ist bereits vorhanden und wir haben kaum mehr Mitarbeiterwechsel.“

„Genau das wollte ich auch fragen“, wirft eine ältere Dame ein. Ein Stammgast übrigens, die viele Jahre nicht mehr im Haus war, da sie die Ballermannkultur der Region gemieden hat. „Mir ist aufgefallen, dass hier wieder sehr viel Dialekt gesprochen wird, im Vergleich zu früheren Jahren“, stellt die Dame fest. „Ja, unsere Mitarbeiter kommen fast alle aus der Region. Wir haben auf Grund der Kulturveränderung wieder viele ehemalige Fachkräfte in die Branche zurückholen können. Durch die allgemeine Verlangsamung ist es wieder interessant im Tourismus zu arbeiten,“ mein die Chefin.

Slow Tourism – Slow Food

„Diese Verlangsamung spüren aber nicht nur die Mitarbeiter“, sagt der Serviceleiter. „Wir spüren es auch sehr stark bei den Gästen. Die Wertigkeit für unsere Dienstleistung ist gestiegen, wir dürfen wieder Gastgeber sein. Die Gäste sind zufrieden mit dem, was unsere Region ausmacht. Die Beziehungen und damit das Klima im ganzen Haus, haben sich verbessert. Das allgemeine Verständnis für den Wert unserer Dienstleistung für die Gäste hat sich verbessert – auf beiden Seiten. Wir haben zufriedene Gäste und mündige, selbstständige Mitarbeiter, die auch ohne Zutun der Unternehmensleitung an einer Weiterentwicklung des Hauses arbeiten.“

Noch vor zwei Jahren wäre es nicht möglich gewesen, zu dieser Zeit, in so einer Runde gemütlich beisammen zu sein. Jetzt kurz vor Mitternacht am Silvesterabend. Alle wollten nur höher, weiter, schneller. „Schnell den Champagner, schnell zum Feuerwerk (hoffentlich hat das Hotel sich mal wieder was Neues einfallen lassen), schnell zum Mitternachtsbuffet, schnell an die Eisbar. Wir haben ja dafür bezahlt. Und wehe wir bekommen für unser Geld zu wenig.“

„Die Werte haben sich gewandelt. Das Leben hat wieder mehr Inhalt bekommen und an Schnelligkeit verloren“, sagt die Chefin. „Das war anfangs schwierig, eigentlich undenkbar. Und einige unserer Kollegen haben den Wandel nicht geschafft. Ich möchte nicht sagen, dass es uns besser oder schlechter geht, es ist nur anders, es gibt mehr Gemeinsamkeit und Zusammenhalt. Und das ist genau genommen schon besser als das was es noch vor zwei Jahren war.“

Dietmar E. Fröhlich | 2020 | Sie erreichen den Autor unter: def@h-m-c.eu

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